Dienstag, 5. Dezember 2017

5. Dezember 2017 - Adventskalender 2017: 5. Türchen - Gastbeitrag von Ille Schoenenberg

Danke, liebe Ille Schoenenberg

für diesen Gastbeitrag


Alljährlich erinnert mich die Vorweihnachtszeit daran, dass ich, trotz der durchgemachten Polioinfektion im Alter von 23 Monaten und dem jahrelangen Getrenntsein von Mutter, Vater und Geschwistern, in einem Alter, das für die Bindung zur Familie und dem Erlernen von Sozialverhalten prägend ist, nie daran gezweifelt haben muss, von all diesen Menschen unendlich geliebt zu werden.

Ich habe vier Geschwister, bin die Jüngste, das Sorgenkind, und habe sehr früh im Leben gelernt, das Jammern und Barmen nicht hilft, niemandem. Meine Mama musste zwei mal alles, aber auch alles, was ihr lieb und wert war, zurücklassen. Sie war und ist mir bis heute ein Vorbild. Einmal floh sie vor den Russen mit zwei Kindern aus dem jetzigen Polen und mit vier Kindern, mein Vater wurde als Sympathisant des Arbeiteraufstandes des 17. Juni inhaftiert, aus der DDR über Berlin nach Hamburg. Es war Schicksal, dass ich es war, die sich 1954 in einer Fabrikhalle in Hamburg-Wentdorf, die als Flüchtlingslager genutzt wurde, mit dem Poliovirus infizierte (die Schluckimpfung wurde in der BRD erst im Februar 1962 eingeführt).

Mehr als zwei Jahre (von 1954 - 1956) musste ich, eingesperrt in einem Gitterbett, vom Kopf bis zu den Füßen bewegungslos an ein Gipsbett gefesselt, ausharren, bis mein Papa mich befreite, als er einen Dekubitus entdeckte, der so groß und so tief war, dass er freie Sicht auf mein Steißbein hatte. Wie das passieren konnte? Wir waren arm, sehr arm, und das Geld reichte nur für maximal ein/zwei Besuche im Vierteljahr. Oft reichte es nur für die Hälfte der Strecke nach Volmarstein, und meine Mama/Papa liefen den Rest, viele, viele Kilometer, steil bergauf, bei Wind und Wetter. Das allerdings weiß ich nur aus Erzählungen.

Endlich durfte ich zurückkehren in mein erstes Zuhause nach unserer Flucht...mit jetzt sechs Personen, in einem Zimmer, Waschbecken und Toilette im Flur, die wir uns mit vielen anderen Familien teilten. Zur Erklärung: Von Hamburg aus wurden meine Eltern und Geschwister nach Bochum und ich in die Krüppelanstalten (das hieß damals wirklich so) Volmarstein verbracht. In Bochum wurden Arbeitskräfte für den Kohleabbau benötigt.

Mein Vater musste unter Tage arbeiten, obwohl er seit seiner Gefangenschaft panische Angst vor der Tiefe und der Dunkelheit hatte. Alternativen und Wünsche waren unangebracht, Ungehorsam bedeutete Wohnungslosigkeit und Hunger. Damals gab es die heutige Form unseres Sozialstaates noch nicht, der sich um jeden und alles kümmerte und für den Lebensunterhalt, wenn nötig, aufkam. Selbst die Kosten für jedes Hilfsmittel, das ich später benötigte, mussten meine Eltern der Abteilung "Hilfe außerhalb von Heimen und Anstalten" des Sozialamtes in Raten, DM für DM erstatten. Die gesetzlichen Krankenkassen waren damals für die Versorgung noch nicht zuständig.

Das Leben war hart für meine Mama, die von fünf Mark Schichtlohn nicht nur Miete und Abgaben/Hilfsmittel tragen, sondern auch vier Kinder und zwei Erwachsene ernähren musste. Trotz der beengten Verhältnisse und der Geldnot war der Umgang meiner Eltern miteinander und der zu uns Kindern geprägt von tiefer Liebe, Fürsorge und Achtung. Nie habe ich einen Streit zwischen meinen Eltern erlebt, oder eine von Frust und Ärger hervorgerufene Ungerechtigkeit uns Kindern gegenüber. Natürlich fühlten sie sich hin und wieder "genötigt", Strenge walten zu lassen, auch mir gegenüber. Leider muss ich zu meiner Schande gestehen, dass ich ein richtiger Wildfang und ständig zu Streichen/Ungehorsam aufgelegt war, denn auch krabbelnd und rutschend kann man sich ordentlich unbeliebt machen*g!

Meine Mama war nicht nur sehr stark und geduldig, sondern auch eine weise, gütige Frau. Hier nur ein Beispiel! Auf die Frage ihrer gehunfähigen Tochter, warum alle anderen Kinder Freunde hätten und laufen könnten und...sie nicht, antwortete sie: "Mein liebes Ilkchen, all die anderen Kinder sind einfach Kinder! Der liebe Gott sucht sich nämlich nur die starken Kinder aus und schenkt ihnen deshalb ein besonderes, nicht ganz einfaches Leben, weil er genau weiß, dass sie es trotzdem lieben werden!"

Ich habe verstanden, was meine Mama damals meinte und bin, bis heute... ein sehr zufriedener und glücklicher Mensch, der liebt und geliebt wird und für den es sehr schwer nachvollziehbar ist, täglich online und im Alltag erleben zu müssen, dass Demut, Dankbarkeit, Verständnis, Toleranz, Zwischenmenschlichkeit, Hilfsbereitschaft, vor allem aber Nächstenliebe - kaum noch gelebt werden.

Auf dem Foto seht ihr meine geliebte Mutti und mich auf der Außenterrasse der Klinik - an dem Tag, an dem sie mich, vollständig gelähmt, in die Obhut der Schwestern der Klinik übergeben musste, für mehr als 750 Tage, auf Gedeih und Verderben, nicht wissend, was ich täglich durchleben musste, wie man mich behandelt, ob sie mich wiedersehen würde.  Dass ich vorher bereits in Hamburg, für Monate in einem Krankenhaus in der Eisernen Lunge verbracht habe, stets dem Tode nahe, sei nur am Rande erwähnt.

Nun denn, später, ich war bis zu meinem 15. Lebensjahr jährlich für viele Wochen zur Therapie und Hilfsmittelversorgung in der Orthopädischen Klinik der Krüppelanstalten Volmarstein zu Gast, kam es zu Übergriffen wie Schlägen/Ohrfeigen. Ich glaubte damals, das wäre legitim, weil als Erziehungsmaßnahme gemeinhin üblich. Ein Erlebnis hat sich besonders tief in mein Gedächtnis eingegraben, schildern möchte ich es hier nicht. Nachzulesen sind die schrecklichen Untaten  in einem Link, den ich auf Wunsch gern auf Facebook unter diesen Beitrag einstelle, falls jemand es lesen mag, vor allem aber, es aushält, zu lesen.

Viel schlimmer empfand ich, weil ich mich erinnern kann, dass ich von meinem 6 - 14 Lebensjahr, oft monatelang an jedem Sonntag, bis zu 6 Stunden an einem geöffneten Toilettenfenster gestanden habe, von dem man aus ich die Auffahrt zur Klinik einsehen konnte, immer in der Hoffnung, dass gleich meine Mama um die Ecke kommt, mit einem Körbchen in der Hand, in dem vielleicht Kartoffelsalat und Frikadellen darauf warteten, von mir gegessen zu werden. Das Klinik-Essen war damals oft ungenießbar, vor allem wenig kindgerecht...also besser, nichts essen. Dass es funktioniert hat: Ich habe mit 11 Jahren und einer Größe von 1,40 m = 29 kg gewogen. 

Ach ja, von 10 x habe ich neun mal umsonst dort gestanden, und bin stets tieftraurig und durchgefroren in mein 10-Bett-Zimmer zurückgekehrt. Dort erwarteten mich neun Zimmerkameradinnen, die mich mit Häme und Spot übergossen...vermutlich froh darüber, dass sie nicht die einzigen waren, die auf Besuch gehofft haben. Nun denn, ab ins Bett und heulen, bis der Schlaf mich gnädig von dem träumen ließ, was mir am Tage nicht vergönnt war. Deshalb empfinde ich heute große Dankbarkeit darüber, dass meine Enkelkinder Romy und Nele niemals auch nur einen einzigen Tag von ihrer Mama getrennt sein müssen.

Stop! Bevor aus einer Erzählung ein Buch wird, hier mein Leben im Schnelldurchlauf:

Geboren 1952, als 4. Kind meiner Eltern, Sternzeichen "Stier"....

 Kaum 5 Jahre jung, den  Kampf aufgenommen gegen die zurückgeblieben Lähmungen und eine intolerante Gesellschaft, die es vorzog, Behinderte in Ghettos unterzubringen - mich erfolgreich dagegen gewehrt.

Meine Eltern ermöglichten mir mit einem immensen Kraftaufwand und viel Improvisationstalent den Besuch eines "normalen" Kindergartens und die Aufnahme in einer Regelschule.

Mit 8 Jahren mühselig das Laufen erlernt, verpackt in Hilfsmitteln aus Stahl und Leder = Korsett, Schiene, Schuhe, die ich mit 12 Jahren in den Keller verbannt habe. Eine gute Entscheidung, denn so konnte ich die Muskeln, die der Polio-Virus nicht erwischt hatte, dazu animieren, die Funktion der gelähmten zu übernehmen.

Es folgten Jahre der kaum eingeschränkten Mobilität, die mich meine Behinderung fast vergessen ließen. Diese Zeit nutzte ich für....Schulabschluss, Ausbildung und Dienstzeit bei der Stadtverwaltung....Hochzeit 1972, Geburt einer Tochter 1976, die ich "fast" ohne Hilfe großziehen konnte, was mich bis heute mit Stolz erfüllt, und...das Ausleben meiner

Hobbys =  Nachdenken, lange Spaziergänge, gutes Essen, Musicals, Reisen = USA, Mexiko, Afrika, Frankreich, Belgien, Niederlande, Schweden, Österreich, Türkei, Spanien, Italien, Tschechin, Polen, ehem. Jugoslawien, Deutschland = alle Bundesländer = Städte = Hamburg, Bremen, Berlin, Köln, Frankfurt, München, Stuttgart u.v.a.m., Shoppen = in Einkaufszentren, Vergnügungsparks = Disneyland in Anaheim, Paris, de Efteling, Movieworld u.v.a.m., das Beschützen, Füttern und Hegen meiner bis 18 herrenlosen Katzen, meiner Familie + meiner Freunde,von denen mir wenige bis gar keine geblieben sind und...mit denen ich nur noch ohnline Kontakt habe, aber immerhin!

Seit meinem 35 Geburtstag kämpfe ich nun aussichtslos gegen das Post-Polio-Syndrom, eine heimtückische Erkrankung, die gezielt die Muskeln befällt, die mir über all die Jahre ein Leben mit nur geringen Einschränkungen erlaubten. Mit 39 Jahren ging nichts mehr ohne Rollstuhl, der mir allerdings ein wichtiger Begleiter wurde, ermöglichte er mir doch die Teilnahme am Leben außerhalb meiner vier Wände.

Nun bin ich 65, und nein, es geht mir gesundheitlich nicht gut. Alle meine Lähmungen aus der Kindheit sind zurückgekehrt, ich bin wieder gehunfähig und ohne Unterstützung meines Mannes und meiner Tochter hilflos...selbst das Atmen muss ich einer Maschine überlassen. Dadurch bin ich gezwungen, um alles zu bitten, was mir als ehemalige Powerfrau bis heute sehr schwer fällt. Es gibt tatsächlich auch Stunden, an denen ich mich elend fühle, genug habe, nicht mehr mag.

Dann erinnere ich mich einfach daran, was ich noch alles schaffe. Nämlich zuzuhören, zu trösten, zu sprechen, zu riechen, zu sehen, zu lachen, und...mit Hilfe des besten Ehemannes diesseits und jenseits des Äquators zu vereisen, Ausfüge zu machen, ins Stadion zu gehen und...das Wichtigste, meine Familie zu lieben...insbesondere meine Enkelkinder.

Fazit: Mein Leben war und ist Kampf, aber allein das Ergebnis zählt! Ich bin wie und was ich bin auch durch das, was ich war. Deshalb versuche ich, dieses zu lieben, ohne Wenn und Aber, in Freud und Leid, und jeden Tag dankbar zu begrüßen, vor allem aber....das Lächeln nicht zu verlernen.

In diesem Sinne, wünsche ich allen Zufriedenen, Unzufriedenen, Glücklichen, Glück suchenden, Nörglern und Wutbürgern...eine besinnliche Zeit der Ankunft.



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