Freitag, 17. März 2017

17. März 2017 - Eine kurze Geschichte: "Kevin - Verloren im Netz"



Kevin - Verloren im Netz

Wäre Kevin viel früher geboren worden, hätte er vielleicht am Dorfbrunnen gesessen und den anderen Menschen zugesehen, wie sie ihren Beschäftigungen und Freuden nachgingen -

und sicherlich würde er dann einen anderen Vornamen tragen als ausgerechnet Kevin. Nie vergaß er die Worte seines Vaters, der völlig im Ernst meinte "Kevin ist kein Name, sondern eine Diagnose. Aber deine Mutter wollte, dass du so heißt. War gerade modern. Gott hab' sie selig."

Seine Mutter war bei Kevins Geburt gestorben, und nun lebte er bereits 30 Jahre mit der Tatsache, dass es ohne Mutter gar nicht lustig war. Dass es  m i t   einer Mutter fröhlicher und schöner zugehen könnte, empfand er in seinen Tagträumen, und manchmal sah er es bei seinen Mitschülern, später bei Kollegen oder Nachbarn - ohne es wirklich mitzuerleben.

Denn Kevin war ein Einzelgänger, und das vielleicht aus einer Not heraus, weil niemand ihn mochte - obwohl er manches Mal dachte, dass es einzig und allein an ihm lag, dass ihm niemand Sympathie entgegen brachte.

Zum Glück gab es das Internet.

Seit fünf Jahren war der Maler- und Lackierer arbeitslos und verbrachte seine wache Zeit mehr und mehr nur im Netz.

Anfangs surfte er durch diverse Foren und soziale Netzwerke, bis er ihn zufrieden stellerende Seiten fand:

Tatsächlich gab es Leute, die ihren gesamten Alltag mit anderen teilten - und somit immer online waren. Er sah nicht nur deren Wohnzimmer, Schlafzimmer und Küchen, sondern auch jede Menge von dem Leben der ihm fremden Menschen.

Irgendwann stieß er auf die Seite der Familie Sommer, die alle Minuten des Tages ihr Leben für jeden präsentierte, der zusehen wollte. Bald fühlte er sich wie ein Mitglied dieser Sippe mit Mutter, Vater, Oma und zwei Kindern im pubertären Alter.

Schon am frühen Morgen konnte er es kaum erwarten, zu sehen, wie sie ihr Frühstück mit lautstarken Kommentaren und liebevollen Bemerkungen über die Runden brachten.

Doch an den Abenden wurde es manchmal richtig interessant,

denn die Oma der Familie lud ein, um Geister zu beschwören. Zu diesen Ereignissen trudelten jede Menge anderer Leute ein, die es sich in einer großen Runde gruselig machten.

Mehr und mehr versank Kevin in die Welt der Familie Sommer, die so sonnig gar nicht war, aber wie sollte er das bemerken?

In einer Vollmondnacht lud die Oma ein, um Verstorbene zu kontaktieren ... Kevin sank vorne über in den Bildschirm vor lauter Faszination -

und plötzlich war er mitten drin im wirklichen Leben dieser Leute, nicht mehr nur außen vor, nicht einer, der vor dem Bildschirm aus sicherer Entfernung betrachtete, was andere anstellten.

Schüchtern grüßte der junge Mann in die Runde, aber er bekam keine Antwort. Er erhob seine Stimme, bekam jedoch wieder keine Antwort.

Die anderen Menschen, mit denen er sich in einem Raum befand, konnten ihn offenbar nicht sehen - also musste es ein Traum sein. Er schloss fest die Augen, um wach zu werden -

aber er wurde nicht wach. Er befand er sich weiterhin in diesem Zimmer - und hörte die Oma mit Verstorbenen sprechen.

Kevin begann, sich zu fürchten. Kevin wollte weg rennen, stand aber erst einmal wie erstarrt. Dann ging er langsam zur Eingangstür - denn die Wohnung kannte er gut, er war schon tausendmal vor dem Bildschirm hier gewesen.

Er wollte die Tür öffnen, doch die ließ sich durch seine Hände nicht öffnen.

Irgendwann verließ einer der Gäste die Runde, und er konnte mit hindurch schlüpfen - und gelangte schließlich auf die Straße.

Es war tiefe Nacht und stockdunkel. Kevin kauerte hinter einem Mauervorsprung und wartete, dass es hell wurde.

Im Morgengrauen sah er die ihm fremde Umgebung und fragte sich, wo er hingeraten sei. Als ein Mann mit einer Aktentasche vorbei kam, sprach er ihn an -

doch der Mann sah durch ihn hindurch, als wäre er überhaupt nicht auf dieser Welt.

In der nächsten Stunde sprach er jeden an, der ihm über den Weg lief - doch niemand sah Kevin.

Er war so unsichtbar, wie er es immer gewesen war. Doch jetzt noch ein Stück weit mehr als je zuvor, denn selbst, als er jemanden brutal anstieß, merkte er seinem Gegenüber nur ein leises Zögern an als hätte ein Windhauch ihn gestreift, aber keine Erkenntnis, dass man ihn wahrnahm.

Tagelang irrte Kevin durch die Gegend. Er wusste nicht, wohin, er wusste nicht, was hier ablief - sein Essen fischte er aus Papierkörben, seine Gedanken konnten die Situation nicht mehr erfassen. Er war irgendwo gefangen,

aber wo?  Er war doch ausgangs nur ins Internet gegangen!

Und falls jemand von euch irgendwann mal einen Windhauch oder eine leichte Brise im Gesicht verspürt,

dann ist Kevin noch immer auf der Suche,

aus diesem Internet wieder heraus zu finden.


Copyright (wie alles in diesem Blog): Silvia Gehrmann


Guten Tag, Gruß Silvia


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